Täglich im Strassenverkehr unterwegs zu sein, kann herausfordern. Auch menschlich.
Ein Ersthelfer-Kurs zu besuchen, wurde für Martina daher unumgänglich.
„Hilfe! Hilfe! Mein Bruder zuckt und liegt am Boden!“ Wir stürmen in den Raum, sehen das Kabel, entfernen die Stromquelle und beginnen mit der Reanimation. 30 Mal Druck auf Herz gefolgt von zwei Beatmungen. Im Kopf die Melodie von Abbas’ Dancing Queen, um im richtigen Rhythmus zu bleiben. Während der Kollege die Notrufnummer 144 anruft und dann zielstrebig zum Defibrillator greift. Die Szene ist eines von vielen Fallbeispielen, die uns Kursteilnehmenden während dem zweitägigen Ersthelfer-Kurs helfen sollen, die Theorie zu verinnerlichen. Für mich ist diese Situation aber gar nicht so unrealistisch.
Die totale Überforderung
Denn der Grund warum ich überhaupt im Kurs sitze, liegt ein knappes halbes Jahr zurück. Im letzten Juni, als wir in der Mongolei unterwegs waren, sahen wir am linken Strassenrand plötzlich ein zerschelltes Auto. Zwei Frauen und vier Kinder standen weinend und mit Blut verschmiert herum. Als wir zum Auto kamen, sahen wir ein fünftes Kind: Es lag leblos auf dem Rücksitz. Noch selten hat sich pure Verzweiflung so nahe, so greifbar angefühlt. Bei uns brach sofort die totale Überforderung aus. Was tun? Wir begannen das Kind zu reanimieren, obwohl das Blut bei den anderen bereits eingetrocknet war und es aussah, als wäre der Unfall schon vor zu langer Zeit passiert. Irgendwann realisierten wir, dass die einzige andere Person, die ebenfalls angehalten hatte, eine Ärztin war und sie die Ambulanz verständigt hatte. Nur: Hier konnten bis zu deren Eintreffen Stunden vergehen.
Irgendwann sagte die Ärztin zu uns, wir sollen mit der Reanimation aufhören, es brächte nichts mehr. Die Schreie der Mutter, die höchstwahrscheinlich den Unfall selbst verursacht hatte, gingen durch und durch. Ich höre sie noch heute. Und schliesslich blieb uns nur noch übrig, die verzweifelten Menschen in den Arm zu nehmen und da zu bleiben, bis die Ambulanz kam und die Familie mitnahm.
Sie fuhren weg und wir blieben weinend und wütend in der Stille zurück. In all der Zeit, die wir da gewesen waren, hatte kein einziges anderes Auto angehalten. Abgebremst hatten sie, geschaut und dann sofort wieder aufs Gaspedal gedrückt. Warum ist man so teilnahmslos?
Soll ich oder doch besser nicht?
Dann hörten wir Geschichten von hie und da. Der Fall aus Deutschland, wo Leute über einen Rentner hinweggestiegen sind, der in einer Bankfiliale am Boden lag, kam wieder zur Sprache. Freunde erzählen uns, sie seien ebenfalls die Einzigen gewesen, als ein Mann beim Aussteigen aus dem voll besetzen Zug fiel. Im ganz normalen Pendlerverkehr der Schweiz. Ich muss doch zur Arbeit und weiss sowieso nicht was tun. Es schaut dann sicher jemand, der besser weiss was zu tun ist. Einige Wochen nach dem Vorfall trafen wir in Usbekistan auf eine Gruppe Reisende aus den Niederlanden. Wir kamen ins Gespräch und irgendwann auf die Notfallsituation. Als wir unser Entsetzen über die Unwilligkeit zu helfen kundtaten, fiel uns der Reiseleiter ins Wort: Er würde im Ausland auch nicht helfen, denn er kenne einen holländischen Arzt, der in Saudi-Arabien als Ersthelfer nach einem Unfall verurteilt worden war, weil das Unfallopfer nicht überlebt hatte.
„Nur Nichtstun ist falsch!“ Den Satz habe ich in den letzten zwei Tagen im Ersthelfer-Kurs immer wieder gehört. Angesprochen auf unser Erlebnis in der Mongolei, sagt aber auch die Kursleitung: Die Rechtslage in der Schweiz und in weiten Teilen Europas ist klar. Wer hilft, kann nichts falsch machen. Wer nicht hilft, allerdings schon. Erste Hilfe zu leisten, könnte im Ausland aber tatsächlich schwerwiegende Folge haben.
Eine Kursteilnehmerin hat mehrere Jahre in Brasilien gelebt, ihr sei eingebläut worden nicht anzuhalten, sondern so schnell wie möglich zu alarmieren, um nicht als vermeintlicher Unfallverursacher finanziell in den Ruin getrieben zu werden. Der Pultnachbar arbeitet in Afrika und auch was er erzählt höre ich nicht zum ersten Mal: Wenn du als Ausländer in Afrika einen Unfall verursachst, fahre weiter, sonst kann es sein, dass du gleich an Ort und Stelle der Selbstjustiz zum Opfer fällst. In Indien erlebte ich es vor ein paar Jahren ähnlich: Keiner wollte helfen, weil es könnte ja unangenehme Folgen haben.
Nur Nichtstun ist falsch
Helfen ja, aber nur so lange du dich nicht selbst in Gefahr bringst. Macht Sinn, aber nicht ganz immer. Wir hätten auch mit dem Wissen was folgen könnte, bei dem Unfall nicht vorbeifahren können. Wir hätten es moralisch nicht mit uns selbst vereinbaren können. Wir haben in der Situation ehrlich gesagt nicht einmal darüber nachgedacht, sondern instinktiv gehandelt. War das naiv? Wir finden nein und würden lieber Geld für die verletzte Person bezahlen, obwohl wir nichts mit dem Unfall zu tun hatten, als mit dem Wissen zu leben nicht geholfen zu haben. Natürlich möchten auch wir nicht irgendwo Saudi-Arabien im Knast landen. Aber sind wir realistisch: Wie oft passiert dies wirklich? Eben. Nur nichts tun ist falsch.
Vom Smartphone aus sollte immer die 112 alarmiert werden.
Weil 1.) das Telefon in dem Falle auch ohne Netz vom eigenen Anbieter aus, sich in das gerade verfügbare Netz einloggt und 2.) der fast leere Akku bei der Notrufnummer 112 allen zur Verfügung stehenden Saft erhält: So kann mit fast leerem Akku noch bis zu 15 min telefoniert werden. Und 3.) 112 in ganz Europa funktioniert. Eine SIM Karte wird für den Anruf benötigt, aber 112 kann auch ohne Prepaid-Guthaben angerufen werden.
Die App ECHO112 zeigt den Rettungskräften automatisch Ihre GPS Position an, was wegen dem Datenschutz nicht in allen Ländern automatisch passiert. Wird der Anruf via App getätigt, gibt man das Einverständnis zur Standortübermittlung. Zudem gibt einem die APP automatisch die richtigen Notrufnummern für das Land, in dem man sich gerade befindet, an. Kann im Notfall sehr hilfreich sein.