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DAS LEBEN DER ANDEREN - Deutschland

Unser Bus steht in einer Hauseinfahrt in Norden Deutschlands, die ehemalige Grenze zur DDR liegt von hier rund 100km Luftlinie gegen Osten, aber die Geschichten von der anderen Seite der Grenze,  gibt es für uns zum Nachtisch

Sie hätte damals, vor dreissig Jahren überhaupt nicht mitbekommen was passierte. „Plötzlich waren alle Mitarbeiter weg. Keine Schlosser, keine Maschinenarbeiter waren mehr da. Ich sah bloss wie Autos das Firmengelände verliessen.“ Was war da los? Diese Frage stellte die heute 60-jährige Tina am 9. November 1989. Sie hatte im Büro des staatlichen Erdgasförderbetriebes als Ingenieurin ohne Radio gearbeitet und so die legendäre Pressekonferenz vonGünter Schabowski, dem damaligen Sekretär für Informationswesen der DDR, verpasst. „Die Grenzen sind offen!“ riefen ihr die letzten auf dem Parkplatz noch anwesenden Mitarbeiter zu, bevor auch sie sich aufmachten die von Salzwedel (damals DDR) nur 10km entfernte Grenze zu erreichen.  Und was tat sie an jenem Tag? „Ich ging wie gewohnt von der Arbeit direkt zum Kindergarten, um meinen vierjährigen Sohn abzuholen.“ Das sei wichtiger gewesen, als der nach fast 40 Jahren offene Schlagbaum. 

 

Zum ersten Mal auf der anderen Seite

Erst drei Tage später kochte Tina eine Kanne heissen Tee, schmierte ein paar Brote, setzte ihren Sprössling vorne aufs Fahrrad und machte sich auf über die Grenze. Es hätte sie schon ein „irgendwie komisches Gefühl“ beschlichen, als sie als junge Frau zum ersten Mal in ihrem Leben die Grenze ihrer Heimat ohne Ausreisebewilligung hinter sich liess. Würden die sie auch wirklich wieder reinlassen? 

Der Empfang im Westen sei freundlich gewesen. Die Menschen in Bergen an der Dumme (BRD) hätten gefragt wie es ihnen geht und dem kleinen Thomas Schokolade zugesteckt. Dann seien sie wieder nach Hause gefahren und das Leben sei erstmal normal weitergegangen. Erst nach und nach sei alles unsicher geworden. „Vier Insolvenzen habe ich erlebt, schliesslich bin ich wegen der Arbeit in den Westen gezogen.“ Was nicht einfach gewesen sei, den im fortschrittlichen Westen, sei man sich nicht gewohnt gewesen, dass sie als Frau und Mutter einen solchen Lebenslauf vorweisen konnte. Sie könne doch als Frau unmöglich all diese Weiterbildungen gemacht und gleichzeitig ein Kind grossgezogen haben, hörte sie in Bewerbungsgesprächen immer wieder. „Aber in der DDR war das normal. Frauen waren Arbeitskräfte. Ich hatte immer Arbeit, mein Kind war betreut, wir hatten eine Wohnung und um vieles musste ich mich nicht kümmern, weil es staatlich geregelt war,“ erzählt die damals Alleinerziehende. „Uns ging es gut. Ich wäre nie auf die Idee gekommen die DDR zu verlassen.“

 

Träume von der weiten Welt

 „Aber habt ihr Euch nicht aufgeregt darüber, dass ihr nicht einfach gehen konntet wohin ihr wolltet?“  frage ich nach. Wir sitzen in Wietze, im Norden Deutschlands, im Wintergarten bei Tina und kommen aus den Fragen nicht mehr heraus. Sie war mit uns vor einem Jahr in Sri Lanka, erzählte uns am Nachmittag von ihrer letzten Reise nach Kolumbien und jetzt abends, während das Feuer im Ofen flackert, von der Zeit als Grenzen für sie unüberwindbar waren und diese Tatsache irgendwie normal. „Für Euch ist es sehr wahrscheinlich schwer verständlich, aber es war einfach so. Ich kann es gar nicht richtig erklären. Bis dahin war es mein ganzes Leben lang normal gewesen nicht weg zu können.“ Neben ihrem Elternhaus gab es einen Bahnhof mit zwei Bahnsteigen. Einen für die DDR-Bürger. Einen zweiten für alle die Anderen, die Durchreisenden, die gehen durften wohin sie wollten.  „Wir haben ein Leben lang gewusst, dass es so ist.“ Geträumte hätte sie damals trotzdem von der Welt. „Ein Familienfreund aus dem Westen ging auf Forschungsreisen und schickte von da Postkarten aus der ganzen Welt zu uns. Die hängte ich mir übers Bett und träumte davon einmal wegzukommen.“  

Konsum in ganz anderen Verhältnissen

Es sei schon auch frustrierend gewesen; einfach so nach Lust und Laune einkaufen, gab es damals nicht. Wenn es mal Clementinen gab, so hätte die Verkäuferin bereits im Laden pro Familie eine Tüte abgepackt – für jedes Kind ein Stück. „Auch Kleider gab es oft keine. Wurden die Ärmel des Pullovers zu kurz, hat Mutter vorn einen neuen Streifen angestrickt.“ Sie lacht beim Gedanken an die Erinnerung. Aus Leintücher hätten sie Skianzüge genäht und wenn die Nachbarin aus der Schneiderei verschnittene Stoffe mitbrachte, seien daraus bunte Patchwork-Anoraks entstanden. Man war gezwungenermassen erfinderisch. „Mein Bruder hat auf dem Dachboden eine Antenne gebaut, um Westfernsehen zu empfangen. Einer musste oben die Antennen richten, der andere vor dem Fernseher stehen und rufen, wenn das Programm auf der Mattscheibe aufflackerte.“ Der verschmitzte Ausdruck im Gesicht, lässt erahnen, wie sie als Mädchen freudig durchs Schlüsselloch beim Bruder gespäht hatte. Die Geschichten klingen nostalgisch, nicht verbittert oder traurig. Viel eher als über die Entbehrung in der DDR, regt sich Tina über den mega Konsum von heute auf. Da wird ihre Stimme laut und genervt: „Das kann doch nicht sein, dass wir in so einem Überfluss leben! Das ist doch eigentlich viel verrückter!“ 

Ohren überall

„Aber die Stasi? Habt ihr das mitbekommen, dass ihr bespitzelt wurdet?“ Beim Telefonieren, dass sei klar gewesen, dass die da mithören, da hätte man immer zuerst überlegen müssen, was man den sagen wollte. Und auch sonst seien die Ohren überall gewesen. Einmal zum Beispiel hätte einer ihrer Freunde abends beim Tanzen gesagt: „Ich haue jetzt ab,“ danach war er für zwei Tage im Knast, obwohl er damit nur meinte „er gehe jetzt nach Hause.“ Nach der Auflösung der DDR habe sie erfahren, dass einer ihrer Schwager ein Informant gewesen sei. „Und, was steht über dich in den Akten?“ fragt Dylan nach. „Ich habe meine Akten nie einsehen wollen.“ Seit 1992 haben ehemalige DDR-Bürger die Möglichkeit zu erfahren, was das Ministerium für Staatssicherheit über die eigene Person hinterlegt hat. Über zwei Millionen Menschen haben diese Möglichkeit bereits genutzt. Für unsere Freundin noch keine Option. „Wir hatten einen guten Zusammenhalt untereinander. Die ganze Strasse war füreinander da.“ Wer von diesen Familien und Freunden damals Informationen sammelte, soll ein ungelesenes Kapitel bleiben. 

 

Nachtrag: 

Ein paar Tage nach dem Gespräch und dem Lesen des Artikels schickte Tina uns eine E-Mail. Sie hätte die Einsicht in die Papiere nun doch beantragt. Das Gespräch mit uns hätte so viele Erinnerungen wachgerufen, dass es nun an der Zeit sei, mehr von Damals zu erfahren. 

Und: "Noch heute habe ich beim überqueren der ehemaligen Grenze ein komisches Gefühl. Wie war es für Euch?" 

Der Besuch des Grenzdenkmals Hötensleben löste in uns tatsächlich zwei unterschiedliche Gefühle aus. Zum einen eine Gänsehaut bei der nochmaligen Erkenntnis was für ein Gefängnis die DDR gewesen war und wie viel Geld ein Staat investierte, um seine Bürger gewaltsam dazubehalten. Wahnsinnig schlimm. Filme darüber zu sehen und darüber zu lesen ist anders, als tatsächlich da zu sein, die Wachtürme zu berühren, vor den Mauern zu stehen und mit Menschen zu sprechen, die dieses Kapitel im Geschichtsbuch tatsächlich erlebt haben. Genau daher finden wir es so wichtig zu Reisen und andere Lebenswelten zu sehen, versuchen zu verstehen. Zum anderen löste der Gang entlang der Grenzanlage aber auch eine Art Wind of Change-Gefühl aus. An einer Grenze zu stehen, die keine mehr ist, zeigt auf, dass Veränderung möglich ist. Dass  auch negative Situationen sich verbessern, sich irgendwann wieder ändern. Nichts ist für immer - das Gute nicht, aber eben auch das Schlechte nicht. 

 

 

 

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