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DIE GESCHENKTE FAMILIE

Die heute positive Geschichte treibt immer wieder ein paar Tränen der Rührung in die Augen. Sehr wahrscheinlich auch, weil wir die Beteiligten kennen. Danke Ali fürs Teilen deiner Lebensgeschichte. 

Erzählt von Ali Deliri, aufgeschrieben von Martina Zürcher

 

Als ich knapp zehn Monate alt war, flohen meine Eltern aus dem Iran nach Österreich, wo ich als ganz normales Kind aufwuchs, bis wir in der Silvesternacht 1997/98 das Land fluchtartig in Richtung unserem Herkunftsland verliessen und uns fortan dort versteckten. Wir lebten auf dem Land bei Verwandten und während meine iranischen Cousins jeden Tag zur Schule gingen, musste ich zu Hause bleiben. Lernte anstatt rechnen und schreiben, wie man Melonen pflückt oder Motorrad fährt. Das war eigentlich eine spannende Zeit für mich damals. Dann plötzlich änderte sich unsere Realität einmal mehr von heute auf morgen. Wir flohen in einer Nacht und Nebel Aktion nach Istanbul und lebten fortan in einem Hotel. Hier hockte ich die ganze Zeit mit meinen Eltern in einem Hotelzimmer. Ich musste ein paar Brocken Türkisch lernen und wurde dann alle paar Tage zum Markt geschickt, um Eier, Reis oder Zwiebeln zu kaufen. 

Bis dahin hatte ich einfach alles mitgemacht und nicht hinterfragt, warum wir immer wieder mitten in der Nacht auf Eselsrücken durch einsame Bergtäler ritten, um uns wieder an einem neuen Ort zu verstecken. Erst in Istanbul begann ich zu hinterfragen, warum ich keine Freunde haben und nicht zur Schule gehen konnte. Als mein autoritärer Vater einmal weg war, geriet ich mit meiner Mutter in einen Streit. «Warum können wir nicht so leben wie alle anderen? Warum müssen wir immer in diesem Hotel sitzen und uns verstecken? Warum?», schrie der neunjährige Junge, der ich damals war, sie an und bis heute tut mir meine Reaktion auf ihre Antwort leid. «Weil dein Vater jemanden umgebracht hat,» sagte sie schliesslich und ich begann zu lachen. Sagte zu ihr, das könne nicht sein und sie solle aufhören mir solchen Unsinn zu erzählen. Fünf Tage später spürte uns die türkische Kripo per Zufall im Hotel auf. Auf der Suche nach Passfälschern gab es in vielen Hotels Razzien. Ihnen fiel auf, dass im obersten Stock jemand lebte, dessen Papiere an der Rezeption nicht hinterlegt waren. Sie stürmten unser Zimmer und fanden heraus, dass meine Eltern auf der Fahndungsliste von Interpol standen. Das war 1998, da gab es so was wie Menschenrechte in der Türkei noch viel weniger als heute. Keiner hatte ein Problem damit ein neunjähriges Kind mitsamt seinen Eltern gefangen zu halten. Es war unglaublich langweilig im Knast und oft hatte ich Angst. Vielleicht 30, 40 Männer waren alle in einer grossen Zelle mit verschiedenen Zimmern. Einige tickten regelmässig aus, schrien herum und wurden von den Wachen eins ums andere Mal brutal zusammengeschlagen. Wir schliefen auf Zeitungspapier und mein blau-violetter ‹Fruit of the Loom›-Pullover – an den erinnere ich mich noch genau – diente mir als Kopfkissen. Dann wurde ich wieder für ein paar Tagen in den Frauentrakt zu meiner Mutter verlegt, aber dort war die Stimmung nicht weniger aggressiv. Ich glaube, was mich in der Zeit rettete, waren meine Tagträume und die kindliche Fantasie. Nach drei Wochen intervenierte mein Vater, dass ein Kind nicht in den Knast gehöre und ich kam zu der Familie, die uns zuvor in ihrem Hotel Unterschlupf gewährt hatte. Vier Monate später wurden meine Eltern, dank österreichischen Diplomaten und Anwälte, nach Österreich ausgeliefert. Das Verbrechen – mein Vater hatte aus Eifersucht einen Freund erstochen – war in Österreich passiert, also gehöre der Fall vor die hiesigen Richter, war ihr Hauptargument, mit dem sie schliesslich recht bekamen. Heute ist mir klar, dass wären wir damals in den Iran ausgeliefert worden, meine Eltern die Todesstrafe erhalten hätten. Was aus mir geworden wäre? Keine Ahnung. 

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In Österreich wurden sie zu 19, respektive 12 Jahren Haftstrafe verurteilt und ich kam in ein Kinderheim. Oder hätte in ein Kinderheim kommen sollen. 

Da die Kinderschutzbehörde zu Beginn keinen freien Platz im Kinderheim fanden, kam ich vorübergehenden zu einer Pflegefamilie. Den Lugmayrs, einer Bestatter-Familie in einem kleinen Dorf in Oberösterreich, die bereits vier Kinder hatten. Ich weiss noch genau, wie wir da am ersten Abend zum Essen gemeinsam am Tisch sassen und ich einfach genau so behandelt wurde, wie ihre eigenen Kinder. Ich war nicht Ali der Fremde, ich gehörte von Anfang an dazu. An diese Selbstverständlichkeit erinnere ich mich noch sehr gut. Aus den drei Tagen Notlösung wurden drei Wochen, dann meldete sich das Kinder- und Jugendamt bei Gertrude und Fredi und sagte, sie hätten jetzt ein Kinderheim für mich gefunden, allerdings am anderen Ende Österreichs. Die beiden weigerten sich, mich dorthin zu geben. «Das kommt nicht in Frage, der Ali muss irgendwo hier in der Region bleiben, damit er weiterhin Zeit bei uns verbringen kann.» Und auch meine zwei kleinen Brüder, die von Beginn an ihr Zimmer, ihre Spielsachen und sogar ihre Unterhosen mit mir teilten, wollten, dass ich bleibe. Also blieb ich. Monate später wurde dann ein Kinderheim, welches wie ein Internat geführt wurde in der Nähe von Gunskirchen gefunden und ich verbrachte fortan alle meine Wochenenden und Ferien bei den Lugmayrs. 

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Wenn ich heute von meinen Eltern spreche, dann meine ich in der Tat Gertrude und Fredi. Sie waren in der prägendsten Zeit für mich da, standen mir als Teenager bei und Gertrude kämpfte wie eine Löwin dafür, dass mein leiblicher Vater mich nicht aus dem Gefängnis heraus zurück in den Iran schicken konnte. Für ihn, der in Gefangenschaft immer wie radikalere Ansichten bekam, war es eine Schande, dass sein Sohn in einer christlichen Familie aufwuchs. Für mich war es das Beste, dass mir hatte passieren können. Ich bin nur dank der Liebe und dem Verständnis von Gertrude und Fredi, die selbst übrigens nie ins Ausland reisen und trotzdem keine Sekunde zögerten einen iranischen Jungen bei sich aufzunehmen, zu dem Mann geworden, der ich heute bin. Ich verdanke ihnen unglaublich vieles. Wenn ich mit Gertrude darüber spreche, dann versteht sie bis heute nicht, dass alles was sie für mich getan hat, nicht selbstverständlich ist. Weil es für sie so selbstverständlich ist, einem Kind zu helfen. Egal woher es kommt. Obwohl für sie das kleine Dorf in dem sie leben bis heute der allerschönste Ort der Welt ist und sie nicht einmal einen Reisepass besitzt – «Wozu auch?» – ist sie der weltoffenste Mensch, den ich kenne. «Weisst du Ali, von oben sehen wir Menschen aus wie ein Wald. Jeder ist ein anderer Baum. Es gibt Tannen und Eichen, Fichten und Ahorn. Jeder ist individuell. Aber von unten sind wir alle gleich. Wir brauchen alle Wurzeln und Halt.» Dieser Satz von ihr prägt mich bis heute. 

Ali ist ganz links im Bild. Fredi & Gertrude ganz rechts, dazwischen die ganze Grossfamilie, die Ali geschenkt bekommen hat.
Ali ist ganz links im Bild. Fredi & Gertrude ganz rechts, dazwischen die ganze Grossfamilie, die Ali geschenkt bekommen hat.

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